Viel mehr
als man sich vorstellen kann.
Als ich mich
angemeldet habe, war mir das überhaupt nicht bewusst. Ich habe es zum einen
gemacht, weil meine drei älteren Geschwister alle ein solches Jahr bestritten
haben und es so schon fast zu einem Muss wurde. Zum anderen, weil ich mein
Leben in der Schweiz so satt hatte. Der Alltagstrott, bei dem man Angst hatte,
man könnte ihn nie mehr loswerden. Natürlich war auch der Drang des Entdecken
von Neuem vorhanden. Also, ich hatte gar nicht wirklich darüber nachgedacht, was
ein solcher Austausch alles mit sich bringt. Wenn ich nun daran denke fühle ich
mich ziemlich dumm und unglaublich naiv. Klar habe ich nicht gedacht, dass es
ein Spassjahr mit Dauerlächeln werden würde, aber ich hatte schon so meine
Vorstellungen und Hoffnungen.
Manchmal
fühle man sich vom Austausch total veräppelt und hasst ihn.
Das
Verrückteste ist wohl, dass man sich wie der König der Welt fühlen kann, weil
man denkt, dass man endlich mit dem ganzen Austausch klarkommt und dann, eine
halbe Minute später passiert etwas und man fällt im Sturzfall. Es kann nur eine
ganz kleine Geste, eine Nachricht, ein einziges Wort oder ein Blick von
jemandem sein und man denkt danach den ganzen Tag darüber nach. Es kann sogar
darüber entscheiden, ob der Tag als gut befunden wird oder man ihn lieber
vergessen möchte. Unglaublich wie abhängig und armselig das klingt. Aber für
mich sind abhängig und Austausch mittlerweile praktisch Synonyme. Man ist
eingeschränkt und kann sich nicht alles erlauben. Zum Beispiel muss man bei der
Gastfamilie irgendwie schon ziemlich anständig bleiben und nicht einfach seine
Meinung sagen obwohl man vielleicht innerlich kocht. So oft hätte ich etwas zu
kritisieren, bei dem ich zu Hause keine Sekunde gezögert hätte, es
auszusprechen. Aber hier denke ich, dass ich nicht das Recht dazu habe. Diese
Familie lässt mich gratis für ein Jahr bei sich wohnen und an ihrem Leben
teilnehmen.
Jetzt wo ich
hier in Schweden bin, schon seit sechs Monate, stelle ich mir oft die Frage, ob
ich mich wieder für dieses Auslandsjahr entscheiden würde. Danach geht mein
Gedankengang weiter. Wenn ich mich erneut anmelden würde und erneut anfangen
könnte, würde ich etwas anders machen? Würde ich ein anderes Land wählen? Würde
ich mich anders präsentieren am ersten Schultag? Würde ich bei meiner ersten
Gastfamilie bleiben? Würde ich versuchen die Schule zu wechseln, als ich eine
Zeit lang sogar Angst hatte, meine Klasse zu sehen? Würde ich von Anfang an
probieren, ein gutes Verhältnis mit meiner Gastschwester aufzubauen?
Die Antwort
auf alle diese Fragen: ich weiss nicht, doch was ich weiss ist, dass ich es
sowieso nicht mehr ändern kann und jetzt einfach das Beste daraus mache. Das
hört sich jetzt total so an, als würde ich es bereuen. Dies ist sicher nicht
der Fall. Ich habe bereits soviel gelernt, erlebt und vor allem viel mit mir
selber befasst und dadurch besser kennengelernt.
Es ist so
eine einmalige Chance, die man nur einmal im Leben kriegt. Viele meiner Freunde
sagen, sie gehen dann einfach nach dem Schulabschluss reisen und die Welt
entdecken. Der Unterschied zwischen ihrem und meinem Jahr? Ich besuche ein
Gymnasium und habe die Möglichkeit, Teil einer völlig neuen Familie zu werden,
währendem ich in eine unbekannte Kultur geworfen werde. Viele denken jetzt
vielleicht, dass „werfen“ ein unpassender Ausdruck sei, aber ich habe ihn
bewusst ausgewählt. Man hat keine Wahl und muss sich einfach möglichst schnell
anpassen. Das kann manchmal ziemlich hart sein.
Das mit dem
Heimweh hält sich bei mir dank der heutigen Technik in Grenzen. Man kann
problemlos mit jeder Person skypen und alles erzählen. Deshalb vermisse ich
viel mehr Orte, Gegenstände oder Momente, die mich einfach glücklich machten.
Wie ich zum Beispiel in meiner letzten Woche mit meinen drei älteren
Geschwistern ein letztes Mal durch unsere Altstadt lief. Oder das Gefühl, wenn
ich auf de Gipfel von einem Berg stehe und über die gesamte Schweiz blicken
kann. Ja, die Berge fehlen mir sehr.
Mein Leben hat
im letzten Sommer einfach genial gewirkt und wenn ich jetzt daran denke, dann
find ich es komisch, was ich alles für dieses Jahr aufgegeben habe. Aber ich
habe das alles ja im kommenden Sommer ja schon wieder und dann wird ich sicher
schnell wieder im Alltagstrott stecken. Zuhause bleibt sowieso das Meiste
gleich und ich habe hier die pure Veränderung.
Aber das
alles ist nun auf mein Austauschjahr bezogen und beruht auf meinen Erfahrungen
und Eindrücken. Es kann sein, dass jemand anderes mir bei allem Geschriebenen
widersprechen würde. Ich habe jetzt auch nicht alle Punkte erwähnt, weil es
einfach so viele sind.
Also an
alle, die mit dem Gedanken spielen, selber einen Austausch zu bestreiten: Ich
hoffe, ich habe euch nicht abgeschreckt mit meinem vielleicht ein bisschen
negativklingenden Aspekten und zum Schluss kann ich meine eigene Frage
beantworten: Ein Austausch bringt also vieles mit sich und das ist auch das
Schöne daran. Er ist vielseitig und ein einmaliges Erlebnis. Ja, ich würde mich
wieder für diesen Austausch entscheiden!